Montag, 10. August 2020

Fakten und Hintergründe – Rigaer Straße 94: Realität, Taktik und Recht

#Berlin – Viel kursiert, viel wird interpretiert, viele rechtstheoretische Meinungen werden diskutiert, aber wie sieht es mal mit einer kleinen strukturierten Faktenlage aus? Realität, Taktik und Recht in Einklang zu bringen, ist nämlich nicht jedermanns Sache, einen Versuch ist es aber immer wert. Also führen wir doch mal die losen Enden zusammen und stricken Realität. Der aktuelle Fall Unbewertet Verkürzt dargestellt: Ein vor Gericht bislang nicht ausreichend bevollmächtigter Rechtsanwalt und der mit ihm zusammenarbeitende Hausverwalter planten das Wohngebäude in der Rigaer Straße 94 zu betreten, da sie nach ihrer Rechtsauffassung dazu berechtigt seien. Sie wurden von einer mehrköpfigen Gruppe Vermummter daran gehindert und angegriffen, u. a. mit einem Schlagwerkzeug und einem Reizstoffsprühgerät. In der Folge hatten sie die Polizei – „uns“ – alarmiert und versucht, sich zurückzuziehen. Kolleginnen und Kollegen sind zu Hilfe geeilt und hatten ihrerseits versucht, in das Gebäude zu gelangen. Der Zugang war jedoch nicht möglich, das dortige stahlverstärkte und gesicherte Tor war bereits geschlossen. Bei dem Versuch dennoch nachzusetzen, wurden die Einsatzkräfte mit einem Feuerlöscher besprüht, was einen Rückzug erforderlich machte. Nun galt das Augenmerk erst einmal der Versorgung und Sicherung der Verletzten. Soweit zur unbewerteten Ausgangslage. Wilde Mixtur und Verwirrung Im Hinblick auf das Verhalten der Einsatzkräfte gab es viele Meinungen, Einschätzungen, unterschiedliche Rechtsauffassungen. Manche professioneller, manche weniger. Insgesamt ging recht viel durcheinander, manchmal aus Unwissenheit, vielleicht aber auch bewusst und gewollt. Irritierend war die vermeintlich genaue Kenntnis der Einsatzsituation vor Ort von Personen, die in keiner Weise beteiligt waren. Nun wurden dazu noch individuelle Wahrnehmungen Einzelner, die in Teilen anonym bleiben wollten, ergänzt und mit einem Entscheidungsvorbehalt für das gewaltsame Eindringen in linke Szeneobjekte vermengt. Ein heilloses Durcheinander, das Verwirrung stiftete, Unsicherheit schuf, in Teilen sogar skandalisierte und letztlich darin mündete, dass – vermutlich in Unkenntnis – eine Anzeige erstattet wurde. Umso wichtiger, dieses Knäuel an Sachverhalten und Informationen zu entwirren und zu ordnen. Die Lockerung des Vorbehalts: Eine Chronologie Der restriktive Entscheidungsvorbehalt Bereits 2012 wurde der Entscheidungsvorbehalt der Behördenleitung zum gewaltsamen Eindringen in linke Szeneobjekte formuliert. Damals noch mündlich und deutlich restriktiver. Die Behördenleitung war außer bei einer gegenwärtigen, erheblichen Gefahr immer einzubinden. Weshalb 2012 und weshalb ausgerechnet für linke Szeneobjekte? 2011 versuchten Kräfte einer Einsatzeinheit im Zuge der Verfolgung auf frischer Tat in die Rigaer Straße 94 einzudringen. In der Eile konnten einige Aspekte – z. B. Unterstützung durch eine Technische Einsatzeinheit – nicht vorbereitet werden. Das Resultat: ein versuchtes Tötungsdelikt zum Nachteil einer Einsatzkraft, während diese versuchte ins Gebäude zu gelangen, und viele, viele weitere verletzte Kolleginnen und Kollegen, die Zuordnung von Straftaten war hingegen kaum möglich. Um dies künftig zu verhindern, erging 2012 mündlich der Entscheidungsvorbehalt. Der Fokus lag hierbei auf den linken Szeneobjekten, weil dort ein entsprechendes Aggressions- bzw. Gewaltpotenzial zu verzeichnen war. Eigentlich nichts Neues Auch wenn der formulierte Vorbehalt ein Novum war, ist die Verfahrensweise der Meldung und gegebenenfalls Anforderung weiterer Kräfte in der polizeilichen Praxis eigentlich Alltag. Das fängt auch bei anderen Wohngebäuden mit einer Wohnklientel, die ein hohes Aggressions- bzw. Gewaltpotenzial hat, an und geht bis zu bestimmten Einsatzsituationen, in denen man Spezialkräfte hinzuzieht. Um es greifbarer zu machen, die Durchsuchung der Rückzugswohnung eines bewaffneten Gewalttäters, der auf frischer Tat betroffen wurde, wird auch erst einmal geplant, organisiert und letztlich durch Spezialkräfte durchgeführt. Hierfür sind ebenfalls Meldeketten erforderlich, die grundsätzlich Mitarbeitende des höheren Dienstes beinhalten. Noch greifbarer, die Geiselnahme wird nicht durch den „NE“ gelöst. Das einzig „Besondere“ für linke Szeneobjekte ist, dass es hier ausdrücklich formuliert wurde und als klarer Vorbehalt ausgestaltet war, um zu verhindern, dass sich Dienstkräfte aus hohem Engagement in der Eile in Lebensgefahr bringen. Gelernt und geöffnet Im Jahr 2015 wurde der Entscheidungsvorbehalt letztlich in seiner restriktiven Form schriftlich fixiert. Die sehr eng formulierte Regelung sah vor, dass sogar bei gegenwärtiger, erheblicher Gefahr – die Eilbedürftigkeit ist hierbei offensichtlich – die Entscheidung der zuständigen Direktionsleitung oblag. Mit der Neubewertung der Situation und der Verinnerlichung der erforderlichen taktischen Erwägungen durch die Einsatzkräfte wurde der Vorbehalt 2019 durch die jetzige Behördenleitung gelockert. Erst kürzlich fand in diesem Zusammenhang ein Gespräch mit sämtlichen Einsatzhundertschaftsführerinnen und -führern, also den Kolleginnen und Kollegen, die erforderlicher Weise und nur allzu oft zu Einsätzen im Zusammenhang mit der Rigaer Straße 94 herangezogen werden, geführt. Allen war klar, dass Sie Straftäterinnen und Straftätern nachsetzen können, es müssen und ein gewaltsames Eindringen eines planvollen Vorgehens bedarf – und das unabhängig vom Entscheidungsvorbehalt. Soweit zur Historie und dem einen oder anderen Inhalt. Beim Thema Inhalt: Es geht hier ausdrücklich um gewaltsames Eindringen, also im Falle der Rigaer Straße 94 zum Beispiel um das Durchtrennen der bewohnerseits eingerichteten Sperren und Hindernisse. Spontan muss man an den Aufwand und die Gefahren bei der Räumung der Liebigstraße 14 im Jahr 2011 denken. Fakt und Fiktion: Recht und Taktik im Einklang Der Trugschluss Dass die Einsatzkräfte das Tor nicht direkt überwinden und die Straftäterinnen und Straftäter nicht weiter verfolgen konnten ist Fakt. Das Bestehen des gelockerten Entscheidungsvorbehalts ist ebenso Fakt. Die Schlussfolgerung von manchen Theoretikerinnen oder Theoretikern, dass die Verfolgung der Tatverdächtigen wegen des Vorbehalts nicht erfolgte, ist es jedoch nicht. Sie ist schlicht falsch. Bei der Betrachtung der Faktenlage ist es mehr als offensichtlich, dass diese Annahme nicht zutrifft. Die Einsatzkräfte * haben versucht die Tatverdächtigen zu ergreifen, * standen vor einem ohne technische Hilfsmittel nicht zu überwindenden stahlbewehrten Tor, * hatten gerade keinen Trennschleifer am Einsatzgürtel, * wurden selbst attackiert, * mussten sich wegen des Angriffs auf sie taktisch zurückziehen, * mussten Verletzte sichern und versorgen, * waren zu wenige, um das Gebäude zu umstellen, alle Fluchtwege zu überwachen und es zeitgleich zu „erstürmen“. Die Verfolgung war also unter dem Gesichtspunkt „auf frischer Tat betroffen“ faktisch und physisch nicht möglich. Andere Zusammenhänge, auch die mit dem Entscheidungsvorbehalt, sind ein Trugschluss oder gar konstruiert. Fakt und Fiktion Nun rankt sich die aktuelle Diskussion dennoch darum, ob die Einsatzkräfte trotzdem hätten versuchen müssen, unmittelbar einzudringen. Wir erinnern uns, das taten sie ja. Auch wenn die Realität schon abgebildet wurde, kann man es durchaus einmal durchdenken und sie mit Taktik und Recht in Einklang bringen. Kehren wir gedanklich zurück an das gesicherte Tor. Die Einsatzkräfte fordern über das Einsatzleit- und Lagezentrum oder den Lagedienst Unterstützung an und erwarten diese. In den anschließenden „Alarmierungsketten“ findet sich übrigens von Hause aus schon einmal eine Mitarbeiterin bzw. ein Mitarbeiter des höheren Dienstes, aber das nur am Rande. Nehmen wir nun an, nach 30 Minuten steht das Kräftegerüst am Einsatzort. Erst jetzt kann das Gebäude umstellt oder gar abgesperrt werden. Nach weiteren 30 Minuten hat die Technische Einsatzeinheit das Tor durchtrennt. Zur Überraschung aller findet sich jedoch keine Person mehr direkt dahinter. Wer hätte auch geglaubt, dass nach einer Stunde die Täterinnen du Täter, die bei der Tat vermummt waren, um nicht erkannt zu werden, nun noch immer hinter dem Tor ihrer Festnahme entgegenfiebern? Zu überhören oder zu übersehen, dürften die massiven polizeilichen Maßnahmen zum Eindringen jedenfalls nicht sein. Der Durchsuchungsbeschluss Jetzt bliebe nur noch die Hoffnung, dass die Tatverdächtigen sich noch im Gebäude aufhalten und dass sie im Rahmen einer Durchsuchung sämtlicher Wohnungen etc. irgendwo aufgefunden werden können. Durchsuchungen auch von besetzten Wohnungen unterliegen grundsätzlich dem Richtervorbehalt. Jetzt stelle man sich vor, man spricht unmittelbar mit der Richterin bzw. dem Richter, erläutert den Sachverhalt und die Rahmenbedingungen, um einen Durchsuchungsbeschluss zu erlangen: * Der letzte Sichtkontakt ist über eine Stunde her. * Wir wissen nicht, ob die Tatverdächtigen noch im Gebäude sind. Es gibt eine Vielzahl an Wegen aus dem Haus. * Ein Wiedererkennen scheint unmöglich, sie waren vermummt. * Sie könnten sich in jeder Wohnung oder sogar mehreren aufhalten. * Es geht um ein paar Dutzend Wohnungen. Damit würden die Einsatzkräfte sicherlich für Verblüffung sorgen, einen Durchsuchungsbeschluss gäbe es allerdings nicht. Aus den identischen Gründen ließe sich auch keine Gefahr im Verzug mehr begründen. Nur falls die Idee kursiert: Der Rückgriff auf Personenspürhunde hätte hieran übrigens nichts geändert. Nun, so sehr es Spaß macht, dieses Szenario zu zeichnen, reicht es mit der Fiktion. Zurück zur Realität bzw. den Fakten. Im Resultat Die Strafverfolgung wird durch die Ermittlungen unseres Staatsschutzes gewährleistet. Und auch wenn sie anspruchsvoll sind, haben wir schon mehrfach bewiesen, dass sie erfolgreich sind. Auch unsere Präsenz- und Kontrollmaßnahmen dürfen nicht vergessen werden. In der Rigaer Straße 94 und an anderen linke Szeneobjekte erfolgt die Verfolgung von Straftaten genauso wie überall in der Stadt. Allerdings führen manche Ermittlungen erst deutlich später, wenn das öffentliche Interesse längst versiegt ist, zum Erfolg. Mit Blick auf die dargestellten Aspekte ist die Behauptung umso weniger nachvollziehbar, es handle sich um rechtsfreien Raum und man vereitle Straftaten. Bei der Detailbetrachtung müsste man eigentlich rechtliche Schritte gegen die Anzeigenden erwägen. Hiervon unbenommen bleibt selbstverständlich unsere Unterstützung von Gerichtsvollzieherinnen bzw. Gerichtsvollziehern bei der Umsetzung von gerichtlich erwirkten (Räumungs-)Titeln. Dies gilt natürlich auch für die Rigaer Straße 94, sobald es denn einen solchen Titel und ein entsprechendes Amtshilfeersuchen gibt.   Quelle: Polizei Berlin
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